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Channel: Seite 26 – Unser Havelland (Falkensee aktuell)
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Schmeiß ’ne Rose: Neuer Poetry Slam mitten im Falkenseer ALA-Kino!

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Normalerweise werden im Falkenseer ALA-Kino ja Filme gezeigt. Am 1. Mai gab es aber keinen Hollywood-Blockbuster zu sehen. Trotzdem waren alle Sitzplätze im Kino voll belegt. Vor Ort wurde nämlich ein neuer „Rosenkrieg“ veranstaltet. Neun Jugendliche stellten im Rahmen eines Poe­try-Slams selbstgeschriebene Texte vor. Das Publikum entschied mit Applaus und mit auf die Bühne geworfenen Rosen, welcher Vortrag am meisten unter Haut ging.

Poetry Slams sind eine sehr unterhaltsame Randerscheinung des kreativen Kulturbetriebs. Vor allem auf den kultigen Kleinbühnen der Großstädte bekommt man als Zuschauer einiges geboten. Geschliffen scharf ausformulierte Texte aus der Feder von talentierten Wortakrobaten sorgen für ein amüsiertes Publikum, dem dank der unvorhersehbaren Wendungen oft das Lachen im Hals stecken bleibt.

Claudia Reckermann (56) ist Schulsozialarbeiterin des ASB am Lise-Meitner-Gymnasium. Bereits seit 2008 organisiert sie Poetry-Slam-Workshops und Schreibwerkstätten, um die hier geschulten Jugendlichen dann zum „Rosenkrieg“ auf die Bühne zu bitten.

Der Rosenkrieg ist über die Jahre längst zu einer kultigen Tradition in Falkensee geworden. Was in der Caféteria des Lise-Meitner-Gymnasium begann, wurde in den letzten Jahren an immer neuen Orten fortgeführt, so etwa auch in den Räumlichkeiten des ASB, im Haus am Anger, in der Kulturschmiede oder im Schrääg rüber.

Nun kam es nach langer Corona-Pause endlich wieder zu einer Fortsetzung – dieses Mal allerdings vor gut 150 Zuschauern mitten im Falkenseer ALA-Kino. Claudia Reckermann: „Dass wir hier heute sitzen, ist Zeugnis meines Größenwahns.“

Möglich wurde es, das ALA anzumieten, weil Claudia Reckermann als stets für die Jugend brennender Motor der Kreativität das Jugendforum und auch das Bündnis für Demokratie mit ins Boot geholt hatte. So konnten Fördergelder für den neuen Rosenkrieg in Anspruch genommen werden.

Der Eintritt zum Poe­try-Slam war für alle Besucher kostenfrei. Freiwillige Spenden waren aber erwünscht. Sie wurden am Ende „halbe-halbe“ für die Berliner Obdachlosenhilfe und für die Berliner Tafeln eingesetzt.

Eine kurze Umfrage im ALA-Publikum brachte es ans Licht: Über die Hälfte der Besucher hatte vorher noch nie einen Poetry Slam besucht. So musste Claudia Reckermann erst einmal erklären: „Der Poetry Slam kommt aus den USA. Ein Autor las gern seine Texte vor, ärgerte sich aber, weil er von den Zuhörern kein Feedback bekommen hat. Also ließ er mehrere Autoren gegeneinander antreten und verfügte, dass jeder nur fünf Minuten Zeit habe, um seinen Text vorzutragen. Am Ende sollte der Applaus der Zuschauer entscheiden, welcher Texte der beste war.“

Auch in Falkensee galten die Regeln des Poetry Slams: Es durften nur selbst verfasste Texte in einer Länge von maximal fünf Minuten vorgelesen werden. Verkleidungen waren beim Vortrag ebenso verpönt wie gesungene Beiträge.

Claudia Reckermann bat vor dem Start um Rücksicht und Respekt für ihre Vortragenden: „Unsere Poeten sind keine Profis, sie sind oft erst seit einem halben Jahr in der Schreibwerkstatt mit dabei. Für Texte, die so gut sind, dass man sie sich sofort auf den Körper tätowieren lassen möchte, bitte ich trotzdem um frenetischen Applaus.“

Neun junge Slammer trauten sich anschließend auf die Bühne. Bei den vorhergehenden Rosenkriegen waren die Texte oft sehr persönlich, sehr privat und sehr offen. Viele Eltern waren erstaunt, dass ihre sonst so schweigsamen Kinder anscheinend doch über ein sehr intensives Gefühlsinnenleben verfügten, das in den Texten ungefiltert zum Ausdruck kam. Unvergessen der emphatische und tieftraurige Abschiedsbrief einer Schülerin an den vor kurzem verstorbenen Vater, die wunderbar leichtfüßigen Gedanken eines weiblichen Teenagers über ein mögliches Ordnungssystems in ihrem Kleiderschrank oder die prollig-saulustigen Zeilen eines männlichen Partygängers, der eine „Ode an die Kotze“ verfasste.

Rosenkrieg 2022: Mo erzählt eine tragische Liebesgeschichte

Die Texte, die am 1. Mai zu hören waren, gaben leider nur sehr wenig vom eigenen Innenleben der Schüler preis – oder von dem, was sie in ihrem Alltag bewegt. Sie erinnerten zu oft an abstrakte, lyrische Gedichte („Zwischen Vernunft und Wahnsinn tanze ich“) oder vermittelten mit wütend erhobener Stimme das ganz große Drama („Wach auf zur Ungerechtigkeit und verdiene dir dein Lebensrecht“).

Elli war die einzige unter den Slammern, die beim aktuellen Poetry Slam zumindest versuchte, auch die Lachmuskeln des Publikums wachzukitzeln. Sie berichtete recht amüsant über ihren Müßiggang in der Sauna.

Richtig authentisches Poetry-Slam-Feeling kam am Ende doch noch auf, als Mo die Bühne im ALA-Kino betrat. Er erzählte schnörkelfrei und in absolut geradliniger Prosa davon, wie er als Teenager ein Mädchen aus der Ukraine ausgerechnet in Potsdam kennenlernt – und sich verliebt. Er fragte: „Kennt ihr dieses Gefühl, die Person zu finden, mit der man sein ganzes Leben verbringen möchte – und sie dann wieder verliert?“ Mo erzählte, wie seine Freundin in die Ukraine zurückkehrt und dort eine Blutkrebs-Diagnose erhält. Wie Corona jeden Plan zunichte macht, die kranke Freundin zu besuchen, die nicht mehr lange zu leben hat. Und wie dann die Russen, die in die Ukraine einfallen, der zarten Liebe endgültig ein sehr brutales Ende setzen. Die Reaktion der Mit-Poeten zeigte, dass es sich bei dieser Geschichte wohl nicht um eine erfundene handelte. Betroffenheit pur beim Publikum. Zahlreiche Rosen flogen als Zeichen der Anerkennung für den Text auf die Bühne. Mo rief ins Publikum: „Mama, ich brauche eine größere Vase!“

Claudia Reckermann wurde von den Vortragenden komplett überrascht: „Wir arbeiten zwar in der Schreibwerkstatt an den verschiedensten Texten, wissen aber nicht, was die Slammer an diesem Abend mitbringen und vorlesen. Ich kann nur sagen, dass von den neun Slammern von heute abend sieben vorher noch nie auf einer Bühne gestanden haben.“

In einer 15-minütigen Pause war es möglich, die Slammer selbst an der frischen Luft vor dem ALA anzusprechen.

Lea (17) aus Falkensee: „Die Schreibgruppe ist für mich ein Stück weit ein Zuhause, ein Ruhepol. Ich denke nicht darüber nach, meine Texte einmal zu veröffentlichen. Hier im ALA auf der Bühne zu stehen, ist schon genug Aufregung.“

Alex (18): „Ich schreibe seit zwei Jahren. Die letzten Jahre waren schwer für mich. Das Schreiben ist für mich wie Therapie, ich kann hier mein Leben verarbeiten – und das auch noch mit ganz tollen Leuten. Auf der Bühne braucht man Mut für die ersten Sekunden, danach ist es cool.“

Peter Kissing, Stadtverordneter für die Falkenseer SPD, zeigte sich als Zuschauer begeistert: „Es ist toll, was die Jugend da zustande bringt. Und dass sie es geschafft haben, das ganze ALA voll zu bekommen – alle Achtung!“

Claudia Reckermann stellte in Aussicht, dass es 2022 noch einen weiteren Rosenkrieg geben könnte: „Wir suchen ein permanentes Zuhause für unseren Poetry Slam. Und: Es bahnt sich etwas an. Es könnte sein, dass wir im Haus am Anger unter der neuen Leitung von Steffi Witt eine dauerhafte Heimat finden.“

Am Ende gewann Mo – gekürt durch den Applaus der Zuschauer – den neuen Rosenkrieg. Er bekam eine Jutetasche mit Geschenken überreicht, die einmal durch das ALA geschickt wurde, sodass jeder Zuschauer noch einen Geldschein oder eine andere Aufmerksamkeit in der Tasche versenken konnte. (Text/Fotos: CS)

Dieser Artikel stammt aus „Unser Havelland“ Ausgabe 195 (6/2022).

Der Beitrag Schmeiß ’ne Rose: Neuer Poetry Slam mitten im Falkenseer ALA-Kino! erschien zuerst auf Unser Havelland (Falkensee aktuell).


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