Ein Hund begleitet seine Menschen viele Jahre lang, im besten Fall fast zwei Jahrzehnte. Und jedes Alter hat seine Besonderheiten. Ich kann mich noch daran erinnern, wie mein junger Hund Kindern die Wurstsemmel aus der Hand geklaut, Kornkreise in die Felder gerannt und mit Anlauf Bauchklatscher in die tiefsten Matschepfützen gewagt hat. Das alles ist Vergangenheit. Golden Retriever Becky ist stolze 14 Jahre alt, kommt mit der angeschlagenen Hüfte nur noch schwer hoch und schläft fast den ganzen Tag.
Meist liegt der Hund auf der Treppe vor der Haustür und – wacht. Die Paketboten sind zwar eher der Meinung, dass er tief und fest schläft und dazu auch noch wie ein Weltmeister schnarcht, aber ich habe die Hoffnung, dass ein kleiner Teil des Hundehirns dabei wach ist und aufpasst. Da wir noch nie Einbrecher bei uns hatten, gehe ich davon aus, dass der Hund sie gefressen hat.
Merkwürdige Verhaltensweisen entwickelt der Hund. So klebt er oft stundenlang am Nachbarzaun und blickt sehnsüchtig zu seinem „wahren Herrchen“ herüber – unserem Nachbarn. Der hat ihn einmal ein Leckerchen durch den Zaun geschoben. Das muss das aller-allerbeste Leckerchen der ganzen Welt gewesen sein. Kulinarisch weit entfernt von den Tonnen der anscheinend ungenießbaren 08/15-Leckereien, mit denen wir den Hund verwöhnen.
Seitdem ist der Hund in inniger Liebe entbrannt. Auf unserer Seite des Zauns scheint sich der weiße Köter so zu fühlen wie im Gefangenenlager Hunde-Guantanamo. Das gelobte Land liegt auf der anderen Seite des Zauns. Irgendwann hebe ich den Hund über den Zaun und dann soll er doch drüben glücklich werden.
Bis es so weit ist, bellt der Wuff gern morgens um fünf vor der Haustür – und möchte aus dem Haus in den Garten gelassen werden. Kommt niemand sofort, so wird das Bellen so lange wiederholt, bis doch jemand kommt. Drückt die Blase? Mitnichten. Oft legt sich der Hund auf die nachtkalten Stufen der Treppe – und schläft dort gemütlich weiter. Ich habe inzwischen einen Ammenschlaf entwickelt: Ein Wuffer reicht aus und ich stehe senkrecht im Bett. Oft habe ich bereits den Griff zur Schlafzimmertür in der Hand, bevor mir klar wird, dass der Hund mich wieder manipuliert.
Seit neuestem geht das Bellen im Garten weiter. Da das morgens um fünf suboptimal für das Nachbarschaftsklima ist, gehe ich natürlich nachschauen. Was entdecke ich da? Im Garten des wahren Herrchens steht ein Fuchs – nur einen Meter vom Zaun und vom Hund entfernt. Der Fuchs weiß ganz genau, dass der Hund den Zaun nicht überwinden kann – und provoziert durch Präsenz. Der Hund ist völlig empört über die doppelte Dreistigkeit, dass der Fuchs sich in seine Nähe traut und dann auch noch beim Lieblingsherrchen aufschlägt. Erst, wenn ich mit der Taschenlampe um die Ecke biege, macht der Mobbingfuchs endlich die Biege. Und die Nachbarn dürfen weiterschlafen.
Der Hund bekommt inzwischen mehr Pillen als alle meine menschlichen Verwandten zusammen. Und ausgerechnet der Golden Retriever, der früher alle organischen Substanzen dieses Planeten zumindest probeweise gefressen hat ohne hinzugucken, wird auf einmal wählerisch. Mit deutlich gedrosseltem Tempo wird der morgendliche und abendliche Futterberg reduziert. Am Ende ist alles weg – nur die Pillen bleiben übrig.
Es kommt zu obskuren Bestechungsversuchen in der Küche. Momentan funktioniert es, die Pillen in eine Salamischeibe einzuwickeln und dann auch noch einen Löffel Geflügelsalat darüber zu platzieren, um alles am Ende mit lauwarmer Rinderbrühe zu ertränken. Aber es ist und bleibt ein Kampf.
Auf Spaziergängen trottet der Hund („Hol dir dein Stöckchen doch selbst“) inzwischen in einem so lethargischen Tempo hinter mir her, dass uns immer wieder Rentner mit dem Rollator überholen und abhängen. Würde ich den Hund anschieben, kämen wir schneller voran.
Unterwegs habe ich aber wenigstens die Möglichkeit, am schneeweißen Fell zu zupfen. Denn wenn das Tier eins kann, dann das – Millionen neue Haare produzieren. Ich zupfe und zupfe – und nachfolgende Generationen werden sich fragen, warum denn ausgerechnet an der Ecke Essener und Werdener Straße ein kompletter Eisbär explodiert ist. Ich verrate nichts. (Carsten Scheibe / Foto: Tanja Marotzke)
Dieser Artikel stammt aus „FALKENSEE.aktuell – Unser Havelland“ Ausgabe 175 (10/2020).
Der Beitrag Scheibes Glosse: Explodierter Eisbär erschien zuerst auf FALKENSEE.aktuell.