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Channel: Seite 26 – Unser Havelland (Falkensee aktuell)
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Halb-Halb-Marathon: Eindrücke vom 30. Lauf der Sympathie – von Reinhold Ehl

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„Du musst dran bleiben, Reinhold. Du musst…!“ Immer wieder flüsterte ich diesen Satz lautlos vor mich hin. „Du musst dranbleiben!“ Das kann doch gar nicht sein, dass diese Frau vor mir so eine unbändige Kondition hat. Vor mir her lief schon eine ganze Weile dieser Cindy-aus-Marzahn-Typ und ich war mir schon nach zwei Kilometer sicher, die macht jetzt gleich schlapp. Aber nein. Ganz unmerklich, Meter für Meter, wurde der Abstand zwischen ihr und mir größer.

Blanker Frust setzt sich bei mir fest. Die Frau muss gedopt sein. Anders ist das für mich nicht zu erklären. „Vier Kilometer abgeschlossen“, trällerte die vertraute Stimme der Leichtathletik-App aus meinem Handy, das ich mir um den Bauch geschnallt habe. „Also noch sechs Kilometer“, sagte ich mir. Und ich hielt Ausschau nach einem neuen Zugpferd, denn das weibliche Schwergewicht hatte den Abstand zu mir schon auf mehr als 30 Meter vergrößert. Bilder gingen mir durch den Kopf. Bilder von damals. Vor fast genau 45 Jahren. Mein erster Halb-Marathon. Einundzwanzig Kilometer. Aus dem Stand heraus.

Es war Samstagabend. Ich spielte mit Karla „Mensch ärgere dich nicht“. Mit Vorwärts- und Rückwärtsschlagen. Eine teuflische Regel. Denn das Rückwärtsgehen war Pflicht. Mit Genuss steckte ich mir gerade die nächste Zigarette an. Auch Karla griff zu der weißen Kent-Schachtel und holte sich die nächste Zigarette raus. Ich spürte, dass sie etwas nervös war. Ich hatte schließlich schon zwei meiner vier Jungs sicher nach Hause gebracht und sie noch keinen einzigen. Aber ich wusste auch, dass mit unseren verrückten Regeln jedes Spiel bis zum Schluss offen war. Es klingelte an der Haustür. „So spät? Wer kann das sein?“ Ich nahm nochmals einen tiefen Zug aus meiner Zigarette und ging nach vorne zur Wohnungstür. „Fritz? Du!“ Fritz war unser Trauzeuge, als wir vor gut zwei Jahren geheiratet hatten. Wir gingen ins Wohnzimmer. „Wie, ihr spielt schon wieder oder immer noch? Euch ist wirklich nicht mehr zu helfen“. Er amüsierte sich königlich über unsere Spielleidenschaft. Entweder „Mensch ärgere die nicht“ oder „mau mau“. „Immer noch besser als in die Glotze sehen“, war Karlas Antwort. „Was treibt dich denn so spät noch hierher?“ wollte sie nun endlich wissen. Und dann sprudelte es aus ihm heraus: Morgen – Halbmarathon – 21,1 Kilometer durch den Schönbuch, ein Waldgebiet zwischen Tübingen und Böblingen im Herzen von Baden-Württemberg. Und anschließend könnte man die Erbensuppe, die übrig bleibt, mitnehmen. Nun ja, für einen Junggesellen wie er es war, war das schon ein verlockendes Angebot. Einfrieren. In Tüten. Ja, das gibt Essen für mehrere Wochen. Und die 21,1 Kilometer sind ja wohl ein Witz. Das laufen wir doch mit links. Klar doch. Ich erinnerte daran, wie ich bei der Bundeswehr im 2000 Meter-Lauf alle hinter mir gelassen habe. Auch bei den 5000 Metern war ich noch – na ja –unter den ersten zehn. Aber ganz sicher im ersten Drittel. Und in der Fußball-A-Jugend meines Heimatvereins in Bayern war ich linker Läufer. Läufer: das sagt doch eigentlich schon alles.

Also dann morgen um halb zehn am Stadtrand von Böblingen. Voll Vorfreude steckte ich mir gleich nochmals eine Zigarette an. Karla meinte so ganz nebenbei, dass das mit der Bundeswehr ja nun auch schon sechs Jahre zurückliegt. „Ja und? Meine Güte, was sind schon 21 Kilometer?“ Ich fühlte mich bärenstark. Bilder von Harald Norpoth, unseren 10.000 Meter Olympioniken zogen vor meinem inneren Auge vorbei. Und hat Nurmi, der finnische Wunderläufer, nicht auch geraucht? Den zweifelnden Ton in ihrer Stimme hörte ich wohl, aber darauf musste ich nun wirklich nicht eingehen. Frauen! Was verstehen die schon von echtem Sport.

Am Sonntagmorgen, nach der Anmeldung, reihten wir uns dann unter die Starter. Ein Rundblick genügte und ich stellte mit Ernüchterung fest, dass wir wohl nur krasse Außenseiter waren. Das Feld war gespickt mit Läufern, deren Embleme auf ihren Trikots die Welt des Marathons spiegelten: Berlin-Marathon, New-York-Marathon, 100 km Biel. Ich war beeindruckt. Auch Fritz wurde etwas kleinlaut. „Ganz ruhig, Fritz. Wir schaffen das schon“. Ein Spruch, der offenbar zeitlos ist.

Beim Start stoben manche davon, als ob sie nur 100 Meter vor sich haben. Wir ließen es ruhig angehen. Nichts überstürzen. Fritz redete ohne Unterlass. Das war schon nervig. Aber so war er nun mal. „Jetzt müssten wir eigentlich schon bald die zehn Kilometer-Marke erreicht haben?“ „Ja, absolut“, meinte Fritz. Die Schritte wurden etwas langsamer. Also noch langsamer, als sie ohnehin schon waren. „Da vorne, da ist ein Hinweisschild“, ich raffte mich etwas auf. „Ach du Sch…“. Ich war geschockt. „5 Km“ stand da drauf und wir wähnten uns schon über der Hälfte.

Nach circa acht Kilometer gab Fritz auf. Seitenstechen. „Ich kann nicht mehr“. Nein, aufgeben kam für mich nicht in Frage. Zumindest noch nicht. Kurz darauf der erste Schock. Eine Frau, so um die vierzig, mit Sicherheit doppelt so schwer als ich, zog langsam aber sicheren Schrittes an mir vorbei. Dann noch eine Frau, ebenfalls wesentlich älter und korpulent. „Mein Gott, Reinhold“, sagte ich zu mir selbst, „das darf alles nicht wahr sein. Du bist 26 Jahre alt und lässt dich von so alten Frauen abkochen!“ Bei Kilometer 10,5 war die Wendeschleife. Wenn ich jetzt aussteige bin ich in jedem Fall länger als Fritz gelaufen. Bevor ich jedoch den Gedanken und das Ausstiegsszenario komplett zu Ende denken konnte, hörte ich ein kurzes Zischen hinter mir. Jetzt schon wieder. Das Zischen kam näher. Und dann schob sich ein Greis, vielleicht mit 70 oder 80 Jahren ganz langsam an mir vorbei.“In deinem Alter wäre ich jetzt schon im Ziel“ Aua! Das saß. Und Meter um Meter vergrößerte der Greis den Abstand zwischen ihm und mir. Allerdings hatte dieser alte Opa etwas in mir getroffen. Meinen Stolz. „Ich lass mich doch nicht von diesem Taddergreis….nein, niemals“. Ich biss auf die Zähne und verringerte den Abstand zwischen uns beiden. Bei Kilometer 12 oder 13 gelang es mir, ihn wieder zu überholen. Einen kleinen Vorsprung raus zuarbeiten. Der aber nicht sehr lange Bestand hatte. Wieder kam dieses Zischen näher. Jedes Mal wenn er die Luft raus stieß, gab es diesen Zischlaut. Und wieder überholte er mich. Dieses Mal ohne etwas zu sagen. Aber er entkam mir nicht. Noch gut fünf Kilometer. Ich folgte diesem Zischen. Er darf dir nicht entkommen. Noch einmal eine ungeheure Kraftanstrengung. Wieder war ich an ihm vorbei. Es lief ab wie in Zeitlupe. Und wieder passierte er mich.

Endlich – da vorne sind viele Menschen. Da vorne muss das Ziel sein. Richtbänder waren gespannt. Der Alte lief gut fünf Meter vor mir über die Ziellinie. Ich schleppte mich durchs Ziel und wollte nur noch nach Hause. Ganz schnell. Mit Fritz wechselte ich auf dem Rückweg nahezu kein Wort. Ich fühlte mich nicht nur ausgelaugt. Ich fühlte mich tot. Absolut tot.

Die „Böblinger Zeitung“ zeigte am Montag eine ganze Reihe von Bildern. Und huldigte neben dem Sieger auch dem ältesten Teilnehmer. Ein Mann aus der näheren Umgebung. Mit 78 Jahren war er die 21 Kilometer in 3 Stunden und 35 Minuten gelaufen. Ein kurzer, müder Blick auf das Foto genügte. Ja, es war „mein Greis“.

Und jetzt laufe ich wieder. Jetzt, erstmals nach 45 Jahren. Einen halben Halb-Marathon. Ich bin dabei beim 30. Lauf der Sympathie zwischen Falkensee und Spandau. Zehn Kilometer lang. Der erste Startschuss zu diesem Lauf fiel, als die Mauer rund um Berlin fast überall noch stand. Eine geschichtsträchtige Angelegenheit.

Wir haben die Stadtgrenze von Berlin-Spandau erreicht. „Fünf Kilometer abgeschlossen“ flötete nüchtern die Frauenstimme meiner App auf dem Handy. „Die Hälfte haben sie geschafft“. Na toll. „Reinhold, du brauchst ein neues Zugpferd“. Ein junges Mädchen lief schon eine ganze Weile im gleichen Tempo vor mir her. Ich hängte mich an ihre Fersen. Zentimeter für Zentimeter schloss ich auf. Dann im Gleichlauf. Wie alt mochte sie sein? 15 oder 16 Jahre. Oder jünger. Der Schriftzug auf Ihrer Jacke sagte mir, dass sie für eine Sportgruppe aus Nauen läuft.

Mein Gott, wie oft schon bin ich diese Straße mit dem Auto entlang gefahren. Jahrelang, jeden Tag zur Arbeit nach Berlin-Mitte und wieder zurück. Und jetzt läufst du. „Da vorne sieht man schon die Flankenschanze“, hörte ich jemanden hinter mir sagen. „Dann sind es nur noch zweieinhalb Kilometer“.

Ja, ich hatte mich auf diesen Lauf besser vorbereitet als auf den Halbmarathon von vor 45 Jahren. Aber letztlich bin ich auch nur zweimal die Woche jeweils vier oder fünf Kilometer gelaufen. Bei Regen und Wind macht das trainieren nicht ganz so viel Spaß.

„Durchhalten, Reinhold, durchhalten“, sagte ich mir immer wieder. Die Anfeuerungsrufe der Zuschauer am Straßenrand wurden lauter. „Noch 1,5 Kilometer“, ein älteres Ehepaar schwang Kuhglocken. „Schneller“ rief einer. „Witzbold, wenn du wüsstest…“, sagte ich zu mir.

Dann wieder die App auf meinem Handy: „Sie schaffen das“. Da vorne: die letzte Kurve. Das Rathaus ist zu sehen. Dort muss das Ziel sein. Noch 500 Meter. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, jetzt nochmals einen Schlussspurt zu machen. Aber ich wollte das Mädchen, das mich die ganze Zeit „gezogen“ hat, dann doch nicht hinter mir lassen. Gemeinsam durchliefen wir die Ziellinie. „Danke“ sagte ich ihr mit einem verzerrten Lächeln. Sie lachte zurück und war im nächsten Augenblick schon in der Menge verschwunden.

„Halt“, rief jemand hinter mir. Ich drehte mich um und eine Frau vom Organisationsteam VfL Spandau legte mir eine Medaille um den Hals. „30. Lauf der Sympathie. 2019“. Geschafft!

Gastbeitrag. Reinhold Ehl gehört zur Theatergruppe „Theater in der Scheune“ in Schönwalde-Glien.

Der Beitrag Halb-Halb-Marathon: Eindrücke vom 30. Lauf der Sympathie – von Reinhold Ehl erschien zuerst auf FALKENSEE.aktuell.


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